Selbstkorrektur: Neue Kennzeichenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer heute veröffentlichten Entscheidung die automatisierten Kennzeichenkontrollen Nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz für in Teilen verfassungswidrig erklärt. Die beanstandeten gesetzlichen Vorgaben 

verstießen gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Der Beschluss des Ersten Senats vom 18. Dezember 2018 (1 BvR 142/15) enthält mehrere bemerkenswerte Feststellungen:

  • Das Gericht korrigiert seine bisherige Rechtsprechung im Hinblick auf den Eingriffscharakter des Einsatzes automatisierter Kennzeichenerkennungssysteme. Anders als in einer früheren Entscheidungen (BVerfGE 120, 378) stellt das Gericht fest, dass eine automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle auch dann einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aller einbezogenen Personen darstellt, wenn das Ergebnis zu einem „Nichttreffer“ führt und die Daten sogleich gelöscht werden.
  • Da die Kennzeichenkontrolle in die informationelle Selbstbestimmung der Halter und Nutzer der erfassten Fahrzeuge eingreift, ist deren Zulässigkeit an dem verfassungsrechtlichen Kriterium der Verhältnismäßigkeit zu messen. Insofern ist die gesetzliche Erlaubnis zur Kennzeichenerkennung ohne das Vorliegen von Hinweisen auf schwerwiegende Gefahren verfassungswidrig.
  • Die Reichweite der für den Datenabgleich herangezogenen Fahndungsbestände ist anlassbezogen zu begrenzen. Damit nicht vereinbar ist eine Regelung, welche die für den Kennzeichenabgleich verwendeten Fahndungsdateien nicht genau bezeichnet. 
  • Landesrechtliche Regelungen der Kennzeichenerkennung sind nur zulässig, soweit das Grundgesetz entsprechende Gesetzgebungskompetenzen der Länder vorsieht. Die Strafverfolgung und der Grenzschutz gehören nicht dazu.

Die Entscheidung ist über den eigentlichen Gegenstand hinaus bedeutsam. In den letzten Jahren haben sich die Gesetzgebung des Bundes und der Länder bei verschiedenen Gesetzgebungsvorhaben auf die „alte“ Kennzeichenentscheidung (s.o.) des Bundesverfassungsgerichts bezogen, zuletzt bei den Änderungen des Straßenverkehrsgesetzes zur Einführung eines Kennzeichenscannings für die Durchsetzung von Dieselfahrverboten. Zurecht wurde schon bisher angezweifelt, ob die darin vorgesehene Erfassungen, Speicherungen und Abgleiche von Autokennzeichen und Gesichtsbildern verhältnismäßig seien. Diese Zweifel werden durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes verstärkt. Das zur Rechtfertigung der Einführung der Überwachungsmaßnahmen angeführte Argument, die bloß temporäre Datenerfassung stelle keinen Grundrechtseingriff dar, ist mit dem Urteil obsolet geworden.

Auch auf die Diskussion über den Einsatz „smarter“ Videoüberwachungssysteme mit biometrischer Gesichtserkennung wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Auswirkungen haben: Auch hier haben Befürworter damit argumentiert, es liege bei mehr als 99 % der erfassten Personen keinerlei Grundrechtseingriff vor, da die Daten ja nur temporär gespeichert und mit Fahndungs- und Gefährderdateien abgeglichen werden sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat nun klargestellt, dass schon der Betrieb entsprechender Überwachungseinrichtungen die Grundrechte der erfassten Personen beeinträchtigt, selbst wenn deren Namen und Identität zunächst nicht bekannt sind. Entscheidend sei einzig und allein, ob eine solche Zuordnung möglich sei.

Desweiteren müssten weitere Überwachungsbefugnisse im Lichte der neuen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung überprüft werden, bei denen massenhaft Daten durchsucht und abgeglichen werden, etwa die polizeiliche Rasterfahndung und die „strategische Fernmeldeüberwachung“ durch den Bundesnachrichtendienst. Auch hier liegen – anders als bisher vielfach angenommen – bei „Nichttreffer-Fällen“ Grundrechtseingriffe vor, die am Maßstab der der Verhältnismäßigkeit zu messen sind.

Schließlich ist zu begrüßen, dass das Gericht in einer anderen Frage bei seiner Linie bleibt: „Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden … und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein. .. Jederzeit an jeder Stelle unbemerkt registriert und darauf überprüft werden zu können, ob man auf irgendeiner Fahndungsliste steht oder sonst in einem Datenbestand erfasst ist, wäre damit unvereinbar. Vielmehr bedürfen solche Maßnahmen vor der Freiheit des Einzelnen eines spezifischen Grundes und sind als Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigungsbedürftig.“ (Rnr. 51)

Eine flächendeckende, präventive Massenüberwachung wäre damit nicht vereinbar.

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