Neues EuGH-Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: Bürgerrechte auch in schwierigen Zeiten bewahren!

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Der Europäische Gerichtshof hat den mehr als 500 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Mit seinem neuen Urteil zur Vorratsdatenspeicherung (
C-203/15 v. 21. Dezember 2016) – unterstreicht das höchste Gericht der Europäischen Union die Bedeutung der Grund- und Bürgerrechte. Alle Mitgliedstaaten sind gehalten, die in der Europäischen Grundrechtecharta verbrieften Rechte auch in ihrer nationalen Gesetzgebung zu berücksichtigen. Damit setzt der EuGH ein wichtiges Signal, das angesichts der aktuellen politischen Diskussion über innere und äußere Bedrohungen und dem Erstarken von autoritären politischen Strömungen kaum zu überschätzen ist.

Der EuGH bleibt sich treu

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs liegt auf einer Linie mit seinem Urteil vom 8. April 2014, mit dem das Gericht die Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig erklärt hatte. Die mit dieser Richtlinie vorgeschriebene allgemeine Verpflichtung zur Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten beschränkte sich nicht auf das absolut notwendige Maß und griff damit unverhältnismäßig in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten (Art. 7 und 8 EUGRCh) ein.

Trotz der Annullierung der VDS-Richtlinie setzten mehrere Mitgliedstaaten ihre Praxis der Vorratsdatenspeicherung fort oder erweiterten sie sogar. Letzteres geschah in Großbritannien, wo im Eilverfahren bereits kurze Zeit nach dem EuGH-Urteil – im Juli 2014 – neue gesetzliche Grundlagen zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen wurden, die sogar über die annullierte EU-Richtlinie hinausgingen. Die weitgehenden aktuellen Verpflichtungen zur obligatorischen Datenspeicherung und die Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden sollen nach dem Willen des britischen Parlaments mit dem sog. „Investigatory Powers Act“ kurzfristig sogar noch ausgeweitet werden und künftig auch sämtliche Web-Dienste umfassen, etwa Transaktionen in sozialen Netzwerken oder im Rahmen von Online-Spielen. Am 29. November 2016 einigten sich  das Ober- und Unterhaus auf einen entsprechenden Gesetzestext,
der nach seiner formalen Billigung durch die Queen demnächst in Kraft treten soll. Auch in anderen Mitgliedstaaten gibt es – unterschiedlich weit reichende – gesetzliche Vorgaben, welche die Anbieter von Telekommunikations- und Internetdiensten dazu verpflichten, Verkehrs- und Standortdaten auch dann vorzuhalten, wenn diese für die Erbringung oder Abrechnung des jeweiligen Dienstes nicht bzw. nicht mehr erforderlich sind.

EU-Grundrechtecharta bindet auch den nationalen Gesetzgeber

Ein schwedisches und ein britisches Gericht hatten dem EuGH die Frage zur Klärung vorgelegt, ob die jeweiligen nationalen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung den europarechtlichen Vorgaben entsprechen.

Der EuGH beantwortet diese Frage dahingehend, dass das Unionsrecht nationalen Regelungen entgegensteht, die eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Daten vorsehen. Der Grundrechtseingriff, der mit einer nationalen Regelung einhergehe, die eine Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsieht, sei als besonders schwerwiegend anzusehen. Die Mitgliedstaaten dürfen nicht – wie geschehen – Regelungen, die auf einem wegen seiner Grundrechtswidrigkeit annullierten EU-Rechtsakt basieren oder sogar über diesen hinausgehen, einfach beibehalten oder neu beschließen.

Die Vorgaben des EU-Rechts binden den nationalen Gesetzgeber. Die EU-Datenschutzrichtlinie 2002/58/EG für elektronische Kommunikation („ePrivacy“-Richtlinie) sei im Lichte der Grundrechtecharta auszulegen. Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten seien auf das absolut Notwendige zu beschränken. Dies gelte nicht nur für die Regeln über die Vorratsdatenspeicherung selbst, sondern auch für den Zugang von Behörden zu den gespeicherten Daten. Eine nationale Regelung, die eine „allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung“ vorsieht, keinen Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit verlangt und sich insbesondere nicht auf die Daten eines Zeitraums und/oder eines geografischen Gebiets und/oder eines Personenkreises, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte, beschränkt, überschreite die Grenzen des absolut Notwendigen und könne nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden. Gesetze der Mitgliedstaaten, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, müssen dementsprechend aufgehoben bzw. geändert werden.

Im Hinblick auf die angefochtenen britischen und schwedischen Gesetze liegt der Ball jetzt wieder bei den zuständigen nationalen Gerichten, die den EuGH zur Klärung der strittigen Rechtsfragen angerufen hatten und die nun für die Durchsetzung der EuGH-Vorgaben sorgen müssen. Besondere Verantwortung tragen aber auch die Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten, denen es obliegt, die jeweiligen Bestimmungen des nationalen Rechts zu überprüfen und ggf. zu korrigieren.

Was wird aus der deutschen Vorratsdatenspeicherung ?

Welche Konsequenzen sich für die jüngst wieder eingeführte deutsche Vorratsdatenspeicherung ergeben, muss ebenfalls dringend überprüft werden. Zwar bleiben die Speicherungsverpflichtungen des neuen deutschen Vorratsdatenspeicherungsgesetzes hinter der vom Bundesverfassungsgericht 2010 aufgehobenen Vorgängerregelung zurück. Es ist jedoch höchst zweifelhaft, ob damit auch die Vorgaben des EuGH erfüllt werden, denn auch nach der neuen Regelung sind die Daten unterschiedslos und flächendeckend zu speichern, ohne jede sachliche Begrenzung auf einen Gefahrenbereich oder eine besondere Risikosituation.

Dass die Bundesregierung bzw. die sie tragenden Parlamentsfraktionen diese Prüfung nun ergebnisoffen vornehmen werden, erscheint angesichts der von diesen gerade beschlossenen und angekündigten Befugnisserweiterungen für die Sicherheitsbehörden höchst unwahrscheinlich. Letztlich wird wohl erneut das Bundesverfassungsgericht hier für Klarheit sorgen müssen.

Peter Schaar (21. Dezember 2016)

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