(Bei diesem Text handelt es sich um die Langfassung eines Gastbeitrags, der im Juli 2015 in verschiedenen deutschen Zeitungen erschienen ist)
Obwohl wir heute jeden Tag ungeheure Mengen digitaler Daten produzieren, reagieren die meisten Menschen auf die damit einhergehenden Gefahren eher gleichgültig. Eine Mischung aus Verdrängung und Resignation. Datenschutz? Darum sollen sich doch die Datenschutzbehörden kümmern, die werden schließlich dafür bezahlt! Und immer noch hören wir den dummen Satz: „Ich habe doch nichts zu verbergen!“
Fast täglich lesen wir Berichte über gestohlene Daten, Cyberangriffe und Datenschutzverletzungen. Facebook ändert seine Nutzungsbedingungen und schaut uns laufend beim Surfen über die Schulter? Na wenn schon! Die NSA liest unsere E-Mails mit? Der amerikanische Geheimdienst interessiert sich doch nicht für mich! Vorratsdatenspeicherung? Davor haben doch nur Kriminelle und Terroristen Angst!
Es ist zu befürchten, dass wir unsere Ignoranz teuer bezahlen müssen. Viele werden sich demnächst Vorwürfe machen, warum sie sich nicht rechtzeitig um ihren digitalen Schatten gekümmert haben. Gefahren drohen nicht nur von Kriminellen und Cyberterroristen. Schmerzhaft wird es auch dann, wenn wenn ich sehr viel mehr Zinsen zahlen muss als die Nachbarin, obwohl ich doch bisher alle Kredite zurückgezahlt habe. Oder wenn ich die beantragte Versicherung nicht bekomme oder wenn mir die Auszahlung der Versicherungssumme unter Hinweis auf widersprüchliche Daten verweigert wird. Allgegenwärtige Datenverarbeitung heißt zugleich auch umfassende, permanente Beobachtung – ohne Vergessen und Vergeben.
Vieles von dem, was mit unseren Daten geschieht, spielt sich hinter unserem Rücken ab. die Datensammler sind längst in unseren Alltag eingesickert, ohne dass wir dies bemerkt haben. Fast jeder rechnet heute damit, dass jede Aktivität im Internet Spuren hinterlässt und vielen ist bewusst, dass das Smartphone unseren Aufenthaltsort ausplaudert. Aber dass unser Auto immer mehr Daten sammelt und die so gewonnenen Informationen über unseren Fahrstil demnächst an die Versicherung weiterleitet, ist weniger bekannt. Und an die Videokameras an allen möglichen und unmöglichen Orten haben wir uns fast gewöhnt. Dass die Überwachungssysteme allerdings zunehmend die aufgenommenen Bilder auswerten und Personen anhand ihres Gesichts identifizieren können, wissen die wenigsten. Überwachung bestimmt immer größere Teil unseres Alltags, im Büro, auf der Straße und auch im häuslichen Wohnzimmer per Smart TV.
Andererseits möchten die Wenigsten auf die Bequemlichkeiten verzichten, die es ohne Technik nicht geben würde: Computerspiele, Internet, Navigationssysteme, elektronisches Bestellen und Bezahlen, um nur einige Beispiele zu nennen. Und die Geschäftsmodelle von Google, Facebook & Co. haben uns daran gewöhnt, dass wir selbst für hochwertige Leistungen und Informationen kein Geld zahlen müssen. Aber auch im Internet gilt der Satz: Nichts ist umsonst! Selbstverständlich bezahlen wir für die „kostenlosen“ Dienste – aber die Währung sind unsere Daten. Im Unterschied zu den Frühstücksbrötchen, die wir beim Bäcker kaufen, können wir den wirklichen Preis nicht abschätzen, den wir für viele elektronische Dienstleistungen bezahlen.
Wie teuer die elektronischen Dienste in Wirklichkeit sind, merken zunächst diejenigen, die kreativ sind und die Informationen produzieren. Die Erlöse der elektronischen Verbreitung landen zum größten Teil bei den Betreibern von Internet-Plattformen und Suchmaschinen und nicht bei den Journalisten, Musikern und Künstlern. Aber auch die Nutzer werden zunehmend zur Finanzierung herangezogen, indem sie umfassend in ihrem Verhalten, ihren Interessen und persönlichen Eigenschaften registriert und laufend bewertet werden. Die so gewonnenen Persönlichkeitsprofile sind nicht nur die Grundlage für maßgeschneiderte Werbebotschaften sondern zunehmend auch für alltägliche Entscheidungen, etwa darüber, wer wie lange in einer telefonischen Warteschleife zu verharren hat oder wer einen Mietvertrag bekommt.
Es stimmt schon: Big Data schafft neue Erkenntnisgrundlagen, aber die Kenntnisse sind ungleich verteilt. Die meisten datengetriebenen Geschäftsmodelle gleichen einem venezianischen Spiegel, der nur einseitig durchsichtig ist. Die großen privatwirtschaftlichen und staatlichen Datensammler wissen alles über die Nutzer, aber sie hüten Ihre Datenschatz wie einen Augapfel. Wer von ihnen, die doch alles über uns wissen wollen und vieles erfahren, umfassende Transparenz fordert, dem werden allzu häufig Staats- und Geschäftsgeheimnisse entgegenhalten.
Es stimmt schon: Der Weg in die digitale Gesellschaft ist unumkehrbar. Und trotzdem können wir darauf einwirken, wie unser Leben in 10 oder 20 Jahren aussehen wird. Hätte man vor 150 Jahren der Industrialisierung freien Lauf gelassen, gäbe es bei uns immer noch Kinderarbeit und Arbeitsschutz wäre ein Fremdwort. Ohne den im 19. Jahrhundert begonnenen Kampf von Frauen gäbe es bis heute kein Frauenwahlrecht. Nur durch das Engagement von Bürgerrechtlern ist in den 1960er Jahren in den USA die Rassentrennung gefallen. Und der Umweltschutz wird heute nur deshalb sehr viel ernster genommen, weil sich viele Menschen dafür eingesetzt haben. Genau so müssen wir uns für eine demokratische, menschenfreundliche Gestaltung der Informationsgesellschaft stark machen.
Viele schrecken angesichts der Größe der Aufgabe davor zurück. Andererseits möchte ich an den Satz des großen chinesischen Gelehrten Konfuzius erinnern: „Jede große Reise beginnt mit einem kleinen Schritt“: Privatsphäre ernst nehmen, nachfragen, technische Schutzmöglichkeiten nutzen – angesichts der Herausforderungen erscheint dies nicht viel. Aber selbst kleinste eigene Schritte tragen zu dem notwendigen Stimmungs- und Meinungswandel bei.
Die Informationsgesellschaft ist kein virtueller Vergnügungspark, sie ist aber auch nicht der Friedhof der Demokratie. Gleichgültigkeit, Lethargie und Resignation sind das letzte, was wir brauchen. Auch die Informationsgesellschaft lebt von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich auskennen und die sich einsetzen. Die neuen Informationstechnologien erleichtern es, sich bürgerschaftlich zu vernetzen, unerwünschte Informationen öffentlich zu machen und Diskussionen anzustoßen. Deshalb wäre es auch nicht richtig, die Diskussion über die digitale Zukunft wenigen Spezialisten zu überlassen, Informatikern, Nerds oder – naja – auch den Datenschützern. Vor allem aber dürfen wir nicht dem Irrtum erliegen, der Weg in die Überwachungsgesellschaft sei ein unbeeinflussbares Schicksal.